Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki, einer der bekanntesten, aber sicher auch ein umstrittener, weil oft polarisierender Literatur- und Theaterkritiker, hat wie kein anderer die deutschsprachige Literaturszene in der Nachkriegszeit geprägt. Ab 1960 war er 13 Jahre lang Literaturkritiker bei der ZEIT; danach leitete er 15 Jahre die Literaturredaktion der FAZ und moderierte schließlich von 1988 bis 2001 das „Literarische Quartett“ im ZDF.

Marceli Reich wurde am 2. Juni 1920 als drittes Kind eines Fabrikbesitzers in Wloclawek – deutsch Leslau – in der Woiwodschaft Kujawien-Pommern geboren. Seine Familie gehörte dort zum deutsch-polnischen Mittelstand jüdischen Glaubens und war gut assimiliert. Reich-Ranicki beschrieb seine Herkunft so: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude."

Zunächst besuchte er die deutschsprachige Schule in Woclawek. 1929 musste sein Vater Insolvenz anmelden, darum schickte die Familie Marceli zu reichen Verwandten nach Berlin, wo er zuletzt das Fichte-Gymnasium besuchte und dort noch 1938 sein Abitur machen durfte. Seine Immatrikulation an der Universität wurde dann aber wegen seines jüdischen Glaubens abgelehnt.

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Copyright: ullstein bild - United Archives

Im Oktober 1938 wurde er im Rahmen der „Polenaktion“ zusammen mit 17.000 polnischen Juden zwangsweise nach Polen abgeschoben. Marceli Reich kannte niemanden in Polen, war arbeitslos und musste auch deren Sprache erst lernen. Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde er 1940 ins Warschauer Ghetto eingewiesen und arbeitete dort für den von den Deutschen eingesetzten Judenrat als Übersetzer. Außerdem schrieb er unter dem Pseudonym Wiktor Hart für die Ghettozeitung Gazeta Zydowska - Jüdische Zeitung Konzertkritiken. Im Juli 1942 hatte Reich im Ghetto geheiratet und arbeitete auch bei „Oneg Shabbat“ mit, einem geheimen Untergrund-Archiv des Ghettos. Dort wurde alles gesammelt, was damals das Leben der in diesem jüdischen Wohnbezirk eingepferchten Menschen betraf. Das Archiv gehört seit 1999 zum UNESCO Weltkulturerbe und wird im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt.

Als das Ehepaar Reich Anfang 1943 deportiert werden sollte, konnte es auf dem Weg zum Versammlungsplatz fliehen, sich zunächst im Ghetto verstecken und bald darauf im Februar von dort fliehen. 16 Monate lang lebten sie anfangs in verschiedenen Verstecken und fanden schließlich Unterschlupf in einer polnischen Familie, bis sie von der Roten Armee befreit wurden. Seine Eltern und drei Geschwister hatten die Nazis ermordet.

Ab September 1944 begann er seinen Dienst in der polnischen Untergrundarmee und bei der Geheimpolizei UB. 1948 wurde er Mitarbeiter beim polnischen Auslandsnachrichtendienst und später unter dem Namen Marceli Ranicki – weil sein Familienname Reich zu deutsch klang – Vize-Konsul in London. In London wurde sein Sohn Andrzej Alexander geboren. Als Resident im polnischen Generalkonsulat kümmerte er sich um Exil-Polen. 1949 bat er um Entlassung und kehrte nach Warschau zurück. Er wurde aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, weil man ihm nun ideologische Entfremdung vorwarf und ihn im Rahmen einer stalinistischen Aktion sogar für einige Wochen ins Gefängnis steckte.

Nach seiner Entlassung wandte er sich der Literatur zu, wurde Lektor für deutsche Literatur in einem Warschauer Verlag und begann als freier Schriftsteller zu arbeiten. 1953 erhielt er von den polnischen Behörden Publikationsverbot bis Ende 1954. Ab 1955 war er dann für den staatlichen Rundfunk tätig und schrieb Artikel für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen, unter anderen für die Trybuna Ludu, das Organ der kommunistischen Partei. Damals wollte er rehabilitiert werden und möglicherweise auch wieder in den polnischen Geheimdienst zurückkehren – was ihm in den 1990er Jahren vorgeworfen und von Reich-Ranicki aber bestritten wurde.

Inzwischen hatte er erfahren müssen, dass er erneut in einem autoritär geführten und von der Sowjetunion bevormundeten Staat lebte. Darum blieb er, nach einem Studienaufenthalt in der Bundesrepublik, ab Juli 1958 in Frankfurt am Main und holte seine Frau nach, die mit dem gemeinsamen Sohn Urlaub in London gemacht hatte. In Frankfurt konnte er ab August 1958 als Literaturkritiken für die FAZ schreiben, nun unter dem Namen Reich-Ranicki. Aber Friedrich Sieburg, damals Leiter der FAZ-Literaturredaktion, kündigte ihm, weil er seine Kritiken auch in DIE WELT veröffentlichte und noch für den NDR schrieb.

Also zog Reich-Ranicki mit seiner Familie nach Hamburg und wurde ab 1960 für 13 Jahre Literaturkritiker bei DIE ZEIT. In Hamburg kam er mit dem NDR-Redakteur ► Joachim Fest in näheren Kontakt. Als Fest Mitherausgeber der FAZ geworden war, bot er Reich-Ranicki dort die Leitung der Literaturredaktion an. Dazu veröffentlichte Reich-Ranicki in jeder Samstagausgabe ein deutschsprachiges Gedicht, begleitet von seiner Interpretation. Diese Gedichte wurden über die Jahre zur „Frankfurter Anthologie“ und in einer Buchreihe zusammengefasst.

Seine Literaturkritiken und -beschreibungen waren stets verständlich. ► Frank Schirrmacher beschrieb Reich-Ranickis Arbeitsweise in einem Nachruf so: „Klarheit, keine Fremdworte, leidenschaftliches Urteil“. Denn Reich-Ranicki wollte die Menschen über die Fachwelt hinaus für Literatur begeistern und sie auf die von ihm besonders geschätzten Werke solcher Autoren wie Goethe, Fontane, Thomas Mann, Döblin oder Kafka aufmerksam machen. Aber auch auf moderne Schriftsteller und Poeten wie Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhardt, Heinrich Böll, Max Frisch, Günter Grass oder Wolfgang Koeppen.

Noch mehr Popularität und Wirkung erzielte er ab 1988 durch seine insgesamt 77 Fernsehauftritte im „Literarischen Quartett“, das er von März 1988 bis Dezember 2001 leitete. Für seine Leser und Zuschauer wurde er so zu einem Literaturpapst, woraus Martin Walser in seinem Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“ einen machtbesessenen „Großkasper“ der unseriöse Literaturkritik machte – in einem Buch, das eine heftige Kontroverse auslöste.

1999 erschienen seine Memoiren „Mein Leben“, die 2009 auch verfilmt wurden.

Am 27. Januar 2012 hielt Marcel Reich-Ranicki im Bundestag eine Rede am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, dem Holocaust-Gedenktag. Und schilderte darin als Zeitzeuge den Beginn der Deportationen aus dem Warschauer Ghetto:

https://www.btg-bestellservice.de/pdf/20099820.pdf

Marcel Reich-Ranicki wurde vielfach ausgezeichnet und geehrt: Insgesamt erhielt er neun Ehrendoktorwürden – zuletzt 2007 von der Humboldt-Universität in Berlin, die als Rechtsnachfolgerin der Friedrich-Wilhelms-Universität die historische Schuld für seine Ablehnung zum Studium wegen seiner Religionszugehörigkeit übernahm.

Er wurde mit großen Verdienstkreuzen aus Polen und der Bundesrepublik geehrt und erhielt unter anderen den Thomas-Mann-Preis (1987), den Bayerischen Fernsehpreis (1991), den Ludwig-Börne-Preis (1995), die Goldene Kamera (2000) oder den Henri-Nannen-Preis für sein Lebenswerk (2008).

Im Oktober 2008 sollte ihm für sein Lebenswerk und seine Sendungen „Das Literarische Quartett“ der Deutsche Fernsehpreis verliehen werden. Diese Auszeichnung lehnte er spontan mit dem Hinweis ab – auf den „Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben“.

Im Frühjahr 2003 erkrankte Marcel Reich-Ranicki an Krebs und starb am 18. September im Frankfurter Pflegeheim des Nellini-Stifts im Alter von 93 Jahren. Er wurde auf dem Hauptfriedhof beigesetzt.

Der Literaturkritiker Denis Scheck erinnerte an Marcel Reich-Ranicki so: „Marcel Reich-Ranicki war ein Glück und ein Geschenk für die deutsche Literatur. Er war nicht immer der hellste, aber immer der amüsanteste Kritiker seiner Generation. Ja, er war mitunter blind für bestimmte neue Farben, er war mitunter taub für bestimmte neue Töne in Texten, aber: er war ein leidenschaftlicher Liebhaber der Literatur, ein großer Zampano und Machtmensch, ein Meister des Klatsches, ein Feind der Langeweile, und ein funkenstiebender Aufmerksamkeitsgenerator für Bücher, die ihm wichtig waren.“ 

 

(hhb)

 

Quellen

Reich-Ranicki – Goethepreisträger 2002 / Frankfurter Personenlexikon

Es waren harmlose Berichte / SPIEGEL 25/1994 vom 19.6.1994

Gerhard Gnauck: Kennt die Psyche des Agenten / DIE WELT 12.8.2002

Gerhard Gnauck: Nachbarin, was brauchst du so viel Brot / DIE WELT 9.3.2004

Streit um Marcel Reich-Ranickis Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst / literaturkritik.de

Christina Stefan: Der gottlose Literaturpapst / Humanistischer Pressedienst am 16.10.2006

Frank Schirrmacher: Ein sehr großer Mann / FAZ am 18.9.2013

Ruth Schneeberger: Marcel Reich-Ranicki ist tot – Der Mann, der uns das Lesen lehrte / Süddeutsche Zeitung vom 18.9.2013

 

Bücher

Marcel Reich-Ranicki: Frankfurter Anthologie

Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur / DVA

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben / 1999

Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki – Geschichte eines Lebens / 2005