Was man über „den Nazifilm-Regisseur Nr.1“ sagen darf
„Unsterbliche Geliebte“. Drehbuchautor und Regisseur war Veit Harlan, der während der NS-Zeit ein Vertrauter von Propagandaminister Joseph Goebbels gewesen war und mehrere antisemitische Filme drehte. Von Goebbels erhielt er auch den Auftrag zu dem Hetzfilm „Jud Süß“, er schrieb dafür das Drehbuch und führte die Regie. Goebbels notierte in seinem Tagebuch: „Harlan Film ‚Jud Süß’. Ein ganz großer, genialer Wurf. Ein antisemitischer Film, wie wir ihn uns nur wünschen können. Ich freue mich darüber.“
1949 musste sich Harlan vor dem Schwurgericht in Hamburg wegen „Beihilfe zur Verfolgung“ nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 verantworten. Er wurde aber freigesprochen, weil ihm keine persönliche Schuld nachzuweisen sei und eine strafrechtliche Kausalität zwischen dem Film „Jud Süß“ nicht beweisbar sei.
Auf Revision der Staatsanwaltschaft hob der Oberste Gerichtshof für die britische Zone in Köln das Urteil mit der Begründung auf, der Film „Jud Süß“ sei ein „nicht unwesentliches Werkzeug“ gewesen. In einem neuen Prozess vor dem Landgericht Hamburg verteidigte sich Harlan mit der Behauptung, die Nationalsozialisten hätten seine Kunst missbraucht und ihn zu „Jud Süß“ gezwungen. Eine Weigerung hätte ihn in eine bedrohliche Situation gebracht. Das Landgericht sprach Harlan Ende April 1950 frei. „Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Tätigkeit Harlans in objektiver und subjektiver Hinsicht zwar den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt hat, ihm jedoch der Entschuldigungsgrund des § 52 StGB zuzubilligen war.“
Erich Lüth, nach dem 2. Weltkrieg Senatsdirektor und Leiter der Staatlichen Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg, protestierte am 20. September 1950 dagegen, dass Harlan erneut Filme drehen konnte. Als Vorsitzender des Hamburger Presseclubs sagte Lüth bei der Eröffnung der „Woche des Deutschen Films“ vor Filmverleihern und Filmproduzenten in Hamburg:
„Nachdem der deutsche Film im Dritten Reich seinen moralischen Ruf verwirkt hatte, ist allerdings ein Mann am wenigsten von allen geeignet, diesen Ruf wiederherzustellen: das ist der Drehbuchverfasser und Regisseur des Films 'Jud Süß'! Möge uns weiterer unabsehbarer Schaden vor der ganzen Welt erspart bleiben, der eintreten würde, indem man ausgerechnet ihn als Repräsentanten des deutschen Films herauszustellen sucht. Sein Freispruch in Hamburg war nur ein formeller. Die Urteilsbegründung war eine moralische Verdammung. Hier fordern wir von den Verleihern und Theaterbesitzern eine Haltung, die nicht ganz billig ist, die man sich aber etwas kosten lassen sollte: Charakter. Und diesen Charakter wünsche ich dem deutschen Film. Beweist er ihn und führt er den Nachweis durch Phantasie, optische Kühnheit und durch Sicherheit im Handwerk, dann verdient er jede Hilfe und dann wird er eines erreichen, was er zum Leben braucht: Erfolg beim deutschen wie beim internationalen Publikum.“
Die Domnick-Film-Produktion forderte Lüth daraufhin auf, zu erklären, mit welcher Berechtigung er Harlan so massiv angreife. Lüth antwortete darauf am 27. Oktober 1950 und übergab seinen „Offenen Brief“ auch an die Presse:
„Das Schwurgericht hat ebenso wenig widerlegt, dass Veit Harlan für einen großen Zeitabschnitt des Hitler-Reiches der 'Nazifilm-Regisseur Nr. 1' und durch seinen 'Jud Süß'-Film einer der wichtigsten Exponenten der mörderischen Judenhetze der Nazis war ... Es mag im In- und Ausland Geschäftsleute geben, die sich an einer Wiederkehr Harlans nicht stoßen. Das moralische Ansehen Deutschlands in der Welt darf aber nicht von robusten Geldverdienern erneut ruiniert werden. Denn Harlans Wiederauftreten muss kaum vernarbte Wunden wiederaufreißen und abklingendes Misstrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaus furchtbar erneuern. Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über den Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten.“
Die Produktionsfirma und der Verleiher von „Unsterbliche Geliebte“ erwirkten beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen den Boykott-Aufruf. Eine Beschwerde Lüths wies das Oberlandesgericht zurück. Im Hauptsacheverfahren bestätigte das Landgericht sein Urteil gegen Lüth. Seine Äußerungen seien eine sittenwidrige Aufforderung zum Boykott. Lüths Aufruf laufe „praktisch darauf hinaus, Harlan von der Herstellung normaler Spielfilme überhaupt auszuschalten, denn jeder derartige Film könnte durch die Regieleistung zu einem repräsentativen Film werden“. Harlan sei rechtskräftig freigesprochen worden und unterläge keinerlei Beschränkungen seiner Berufsausübung. Lüth rief daraufhin das Bundesverfassungsgericht an, weil er sich in seinem recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 5 Grundgesetz verletzt sah.
Der Fall beschäftigte das Bundesverfassungsgericht mehrere Jahre. Am 15. Januar 1958 verkündete der Erste Senat seine Entscheidung und gab Erich Lüth Recht. Das Urteil des Hamburger Landgerichts verletze Lüths Grundrecht und sei deshalb aufzuheben. Der Karlsruher Richterspruch war ein Meilenstein, es stärkte die vom Grundgesetz in Artikel 5 verbriefte Meinungsfreiheit.
Zwar schütze die Verfassung vor allem die Grundrechte der Bürger gegenüber dem Staat. „Ebenso richtig ist aber, dass das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will ... , in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und dass gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muss als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflusst es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muss in seinem Geiste ausgelegt werden.“
„Die Auffassung, dass nur das Äußern einer Meinung grundrechtlich geschützt sei, nicht die darin liegende oder damit bezweckte Wirkung auf andere, ist abzulehnen. Der Sinn einer Meinungsäußerung ist es gerade, „geistige Wirkung auf die Umwelt“ ausgehen zu lassen, „meinungsbildend und überzeugend auf die Gesamtheit zu wirken“. Deshalb sind Werturteile, die immer eine geistige Wirkung erzielen, nämlich andere überzeugen wollen, vom Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt; ja der Schutz des Grundrechts bezieht sich in erster Linie auf die im Werturteil zum Ausdruck kommende eigene Stellungnahme des Redenden, durch die er auf andere wirken will. Eine Trennung zwischen (geschützter) Äußerung und (nicht geschützter) Wirkung der Äußerung wäre sinnwidrig.“
Zu den Beweggründen von Lüth schrieb das Verfassungsgericht: „Sicherlich haftet den Motiven, die den Beschwerdeführer zu seinen Äußerungen veranlasst haben, nichts Sittenwidriges an. Der Beschwerdeführer hat keine eigenen Interessen wirtschaftlicher Art verfolgt; er stand namentlich weder mit den klagenden Filmgesellschaften noch mit Harlan in Konkurrenzbeziehungen.
Das sachliche Anliegen des Beschwerdeführers war es, die Gefahr nationalsozialistischer Einflüsse auf das deutsche Filmwesen von vornherein abzuwehren; von da her hat er folgerichtig das Wiederauftreten Harlans bekämpft ... Der Beschwerdeführer hat aus lauteren Motiven an das sittliche Gefühl der von ihm angesprochenen Kreise appelliert und sie zu einer nicht zu beanstandenden moralischen Haltung aufgerufen.“
Abschließend stellte das Gericht fest: „Das Bundesverfassungsgericht ist auf Grund dieser Erwägungen zu der Überzeugung gelangt, dass das Landgericht bei seiner Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers die besondere Bedeutung verkannt hat, die dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung auch dort zukommt, wo es mit privaten Interessen anderer in Konflikt tritt. Das Urteil des Landgerichts beruht auf diesem Verfehlen grundrechtlicher Maßstäbe und verletzt so das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Es ist deshalb aufzuheben.“ (ms)