Herr Direktor schläft
Der Spiegel Nr. 36, 31. August 1954
Der Hamburger Amtsgerichtsdirektor Hans Hollender ist in den letzten Wochen mit einem Fall befaßt worden, der ihm bisher Umstände machte, wie er sie von den Haftprüfungsterminen kleiner und großer Gauner kaum gewöhnt ist, mit denen er sonst vornehmlich zu tun hat. Richter Hollenders Tätigwerden in dieser Angelegenheit ist sogar Anlaß zu einem Gesetzentwurf, der im Bundestag eingebracht werden soll, um die Strafprozeßordnung zu ändern.
Die Geschichte hatte mit einem fernschriftlichen Ersuchen des Oberstaatsanwalts in Würzburg an das Hamburger Amtsgericht begonnen: Die in der Hansestadt erscheinende illustrierte Zeitschrift »Der Stern« Nummer 33 vom 15. August sei »in Verwahrung zu nehmen, weil der Inhalt den Tatbestand eines Vergehens der üblen Nachrede enthält...«
In einer mit ein paar Bildern ausgestatteten Reportage hatte der »Stern« auf den Seiten 42 und 43 seiner Nummer 33 über den Fuhrunternehmer Engelbert Schech aus Würzburg berichtet, dessen Existenz durch die ungerechtfertigte Beschlagnahme eines Omnibusses vernichtet worden sei. Als Hauptschuldigen an Schechs Unglück hatte der »Stern« den Würzburger Stadtrat und Bauunternehmer Altenhöfer verantwortlich gemacht.
Stadtrat Altenhöfer hatte zunächst versucht, im Wege der Zivilklage eine einstweilige Verfügung gegen die Verbreitung des Berichts der Illustrierten zu erwirken. Wer eine einstweilige Verfügung beantragt, muß dem Gericht glaubhaft machen, daß die Gegenseite sicherungswürdige Rechte gefährdet. Der Erlaß einer einstweiligen Verfügung gegen den »Stern« wurde abgelehnt.
Als Altenhöfer beim Amtsgericht Würzburg mit seinem zivilrechtlichen Begehren nicht durchdrang, erstattete er Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Würzburg. Der Oberstaatsanwalt eröffnete darauf ein Ermittlungsverfahren und schickte dem Haftrichter Hans Hollender beim Hamburger Amtsgericht das Ersuchen um Rechtshilfe gegen den »Stern«.
Amtsgerichtsdirektor Hollenders erste dienstliche Tat am Vormittag des 11. August bestand denn auch darin, daß er seinem Justizangestellten mit Aktenzeichen 158 Gs 1478/54 einen Beschluß in die Maschine diktierte, wonach »auf Antrag des Oberstaatsanwalts in Würzburg die Zeitschrift ''Der Stern'' gemäß §§ 94, 98 StPO*) beschlagnahmt
*) § 94: »Gegenstände, welche als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können oder der Einziehung unterliegen, sind in Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen ..."§ 98: »Die Anordnung von Beschlagnahmen steht dem Richter, bei Gefahr im Verzug auch der Staatsanwaltschaft und den Polizei- und Sicherheitsbeamten zu, die als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft ihren Anordnungen Folge zu leisten haben ...« wird... Die Beschlagnahme wird angeordnet, weil die Zeitschrift für die weitere Untersuchung als Beweismittel von Bedeutung sein kann und der Einziehung unterliegt.«
Wann nun eine Zeitschrift »der Einziehung unterliegt«, das sagt der Absatz 1 des Paragraphen 41 StGB:
* »Wenn der Inhalt einer Schrift, Abbildung oder Darstellung strafbar ist, so ist im Urteil auszusprechen, daß alle Exemplare sowie die zu ihrer Herstellung bestimmten Platten und Formen unbrauchbar zu machen sind.«
Auf den Fall »Stern« angewendet, bedeutet diese Bestimmung, daß erst dann, wenn die straf- und presserechtlich verantwortlichen Redakteure und Reporter etwa wegen übler Nachrede rechtskräftig verurteilt werden sollten, mit demselben Urteil auch entschieden werden müßte, die Nummer 33 der Zeitschrift unbrauchbar zu machen.
Amtsgerichtsdirektor Hollender wartete weder den Ausgang des Würzburger Verfahrens ab, noch gab er den »Stern«-Redakteuren Gelegenheit, den Wahrheitsbeweis für die in der Zeitschrift aufgestellten Behauptungen zu erbringen. Hollender verfügte vielmehr kurzerhand die Beschlagnahme der ganzen Zeitschrift, obgleich der Absatz 3 des Paragraphen 41 StGB bestimmt:
* »Ist nur ein Teil der Schrift, Abbildung oder Darstellung strafbar, so ist, insofern eine Ausscheidung möglich ist, auszusprechen, daß nur die strafbaren Stellen und derjenige Teil der Platten und Formen, auf welchen sich diese Stellen befinden, unbrauchbar zu machen sind.«
Da weder Direktor Hollender noch sonst jemand im Gerichtsgebäude ein Exemplar des »Stern« vorliegen hatte, keiner die von Würzburg beanstandeten Textstellen kannte und sich auch keiner die Mühe machte, am Zeitungsstand vor dem Gerichtsgebäude für 50 Pfennig ein Exemplar des »Stern« zu kaufen, sollten sämtliche 792 000 Exemplare der Illustrierten beschlagnahmt werden, weil möglicherweise zwei Seiten »der Einziehung unterliegen«.
Durch den Anruf eines Händlers erfuhr schließlich der Chefredakteur des »Stern«, Henri Nannen, von der umfassenden Polizeiaktion, die inzwischen im ganzen Bundesgebiet gegen sein Blatt lief. Ein Gerichtsbeschluß war Nannen nicht zugegangen.
Was sich im weiteren Verlauf des Tages abspielte, entnahm Henri Nannen der Berichterstattung seines Anwaltes Martin Holste, der alsbald zum Gericht geeilt war. Der Anwalt hatte nur den Justizangestellten Kludasch angetroffen, der erklärte: »Herr Amtsgerichtsdirektor ist nicht da!« - Holste: »Wo ist er?« - Kludasch: »Zu Hause.« - Holste: »Dann geben Sie mir die Rufnummer Ihres Chefs, es geht hier um Werte in Höhe von 400 000 Mark.«
Aber Kludasch bedauerte und verwies auf die »strenge Anweisung«, daß er die Telephonnummer nicht nennen dürfe.
Holste: »Bester Mann, ich will nur Ihren Chef schützen. Ein Regreßanspruch des ''Stern'' gegen den Staat wird unumgänglich sein. Der Fiskus hat aber ein Rückgriffsrecht auf seine Untergebenen.«
Bei Kludasch siegte die Sorge um seinen Chef über dienstliche Anweisungen. Er rief Amtsgerichtsdirektor Hollender an. Aber dessen Zeit war knapp bemessen. Er sei heute nicht mehr zu sprechen, ließ er wissen. Der Anwalt möge morgen wiederkommen. Die noch aus Kaisers Zeiten stammende Dienstuhr in der Geschäftsstelle der Abteilung 158 des Amtsgerichts zeigte die vierte Nachmittagsstunde an.
Am nächsten Morgen war Anwalt Holste bereits bei Dienstbeginn im Gericht und traf auf Amtsgerichtsdirektor Hollender. Holste beanstandete formelle Mängel des Hollenderschen Beschlagnahmebeschlusses:
* Nach Paragraph 27 Absatz 2 des Reichspressegesetzes müssen in der Beschlagnahmeanordnung sowohl der beanstandete Text der Druckschrift im einzelnen als auch die einschlägige Gesetzesstelle, die verletzt sein soll, genau bezeichnet werden.
* Der »Stern«-Text, der den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllen soll, ist aber überhaupt nicht angegeben.
Inzwischen war nun auch dem Amtsgerichtsdirektor Hollender klargeworden, daß die Beschlagnahme einer ganzen Auflage weit über das Maß des
Erträglichen hinausgeht. Am 12. August erließ er deshalb einen Abänderungsbeschluß, »dahingehend, daß vom ''Stern'' nur die Seiten 42/43, soweit sie den Bildbericht ''Die Behörden ruinierten ihn'' betreffen, beschlagnahmt werden. Die übrigen Seiten der Zeitschrift werden freigegeben.«
Nun haben die Polizeibeamten zwar Dienstpistolen, aber keine Dienstscheren, um die beanstandeten Seiten herauszuschneiden. Sie erkundigten sich beim »Stern": »Können Sie uns einen Rat geben, was wir machen sollen? Wenn wir die Seiten 42/43 herausnehmen, gehen ja auch deren Rückseiten, also die gerichtlich freigegebenen Seiten 41 und 44, verloren.«
Im Hamburger Polizeihochhaus am Karl-Muck-Platz wurde zwischen »Stern«-Vertretern und Beamten eine Konferenz veranstaltet, die sich mit der Lösung dieser Frage beschäftigen sollte. Die Entscheidung über den »Stern«-Vorschlag, die beanstandeten Seiten mit Druckerschwärze zu überdecken, lag aber nicht bei der Polizei, sondern bei Amtsgerichtsdirektor Hollender.
Allein die Konferenzteilnehmer konnten Hollender nicht erreichen. Im Gerichtsgebäude war er nicht. Am Telephon in seiner Privatwohnung meldete sich kurz nach drei Uhr eine Frauenstimme: »Ich darf Herrn Amtsgerichtsdirektor nicht stören. Er schläft.« Ob es denn so wichtig sei? Trotz aller Vorstellungen, daß jede Minute kostbar sei, wiederholte die Frauenstimme: »Nein, ich darf den Herrn Amtsgerichtsdirektor nicht wecken. Rufen Sie bitte um 17 Uhr wieder an.«
Um 17 Uhr hatte Amtsgerichtsdirektor Hollender Zeit sich anzuhören, was Anwalt Holste so wiedergibt: »Wir fragten, wie sich der Amtsgerichtsdirektor die Ausführung seines Beschlusses, nur die Seiten 42/43 herauszuschneiden, vorstelle. Er sagte darauf, er wisse es auch nicht.« Hollender schlug vor, doch einmal den »Stern« zu fragen, der ja sicherlich mehr Erfahrungen habe. Anwalt Holste: »Die einzige Möglichkeit ist Unkenntlichmachung der Seiten durch Ausrollen.«
Noch am selben Tag entschied Amtsgerichtsdirektor Hollender für sämtliche Polizeidienststellen des Bundesgebietes, daß nur die beanstandeten Seiten auszutuschen seien. Am Verlagsort Hamburg gab die Polizeibehörde von sich aus 4032 »Stern«-Exemplare an den Verlag zur Unkenntlichmachung zurück. Im Beisein eines Kriminalbeamten überstempelten von der Sekretärin bis zur Scheuerfrau alle »Stern«-Angestellten bis in die Nacht hinein die Seiten 42/43 mit Datums-, Einschreiben- und Drucksachen-Stempeln.
In den anderen Bundesländern aber, wo die beschlagnahmten Hefte sich bereits in den Polizeidienststellen türmten, war es anders. Die Polizisten gingen lieber auf Nummer Sicher und beschlagnahmten auch weiterhin die ganze Nummer, ohne an den Seiten etwas zu verändern.
Inzwischen erging aber ohne Kenntnis des »Stern« zum vierten Male in dieser Sache vom Amtsgerichtsdirektor Hollender ein Beschluß an die Polizeidienststellen, der am 12. August geschrieben, aber erst zwei Tage später ausgefertigt und zugestellt wurde. Er war offenbar notwendig geworden, weil sich die Anfragen einzelner Polizeidienststellen beim Amtsgericht in Hamburg häuften. Direktor Hollender beschloß:
»Der Beschluß vom 12. August wird zur Beseitigung bei der Vollstreckung aufgetretener Zweifel dahin ergänzt, daß nach ... drucktechnischer Unbrauchbarmachung des inkriminierten Artikels der Rest der Zeitschrift ... freizugeben ist.«
Keineswegs aber hatte Amtsgerichtsdirektor Hollender die aufgetretenen Zweifel damit beseitigt. In Punkt 2 desselben Beschlusses verfügte er nämlich: »Die beschlagnahmten Teile der Zeitschrift sind an die Staatsanwaltschaft Würzburg zu geben.« Und unter Punkt 3 hieß es: »Die Unkenntlichmachung ist Angelegenheit des Verlages oder seiner Vertriebsstellen.«
Etwa bis dahin noch bestehende Klarheiten waren mit diesem Beschluß endgültig beseitigt. Den Polizisten oblag es, einerseits ohne Beschädigung des Inhalts lediglich Übertuschungen vorzunehmen, andererseits aber auch die beschlagnahmten Teile abzuführen, dann wieder die Unkenntlichmachung dem Verlag zu überlassen und schließlich die eben zusammengeholten Exemplare wieder auszutragen.
»Stern«-Anwalt Holste versteifte sich: »Wir bestehen auf dem in verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung üblichen Folgebeseitigungsanspruch, wonach eine Behörde den Urzustand wiederherstellen muß, wenn sie etwas falsch gemacht hat.«
Am Freitag, dem 13. August, erfuhr der »Stern«, daß die Beschlagnahme trotz aller Beschlüsse zur Unkenntlichmachung überall im Bundesgebiet weiterging und sich kein Polizist um Hollenders Ausschneidungs- oder Unkenntlichmachungsanweisung kümmerte. Anwalt Holste eilte wieder zum Gericht. Indes, Amtsgerichtsdirektor Hollender sei schon wieder fortgegangen, wurde ihm bedeutet. Als es dem Anwalt schließlich glückte, dem Amtsgerichtsdirektor eine Beschwerde gegen den Beschluß zuzuleiten, lehnte der Richter ab, und Martin Holste ging zur nächsten Instanz, dem Landgericht.
Dort traf der Anwalt, wie »Stern«-Chefredakteur Henri Nannen sich erinnert, den Landgerichtsdirektor Dr. Walter Tyrolf mit Tränen in den Augen an seinem Schreibtisch an. Als Holste dem Landgerichtsdirektor die schriftliche Beschwerde vorlegte, habe Dr. Tyrolf sich mit einer Augenverletzung entschuldigt und gesagt, er könne den Schriftsatz nicht lesen. Martin Holste möge nach drei Tagen, am Montag, dem 16. August, wiederkommen.
Am Montag lehnte das Landgericht die Beschwerde des »Stern« gegen die Beschlagnahme ab, wegen »Verdachts, daß der Artikel nicht erweislich wahre Tatsachen enthält«. Das »Stern«-Angebot, die Beweise für die Richtigkeit der Reportage innerhalb von zwei Stunden zu erbringen, fand keine Beachtung. Der »Stern« hat wegen der Beschlagnahme lediglich auf Verdacht Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt.
Wie lange nun die Entscheidung auf sich warten läßt, ob solch eine auf Grund zweifelhafter Vorschriften der Strafprozeßordnung beschlagnahmte Zeitschrift schließlich unbrauchbar zu machen oder aber wieder freizugeben ist, kann man am Beispiel des SPIEGEL sehen.
Mit dem gefährlichen Brauch, mittels Strafprozeßordnung ganze Zeitschriften-Auflagen »in Verwahrung zu nehmen«, hatte das Amtsgericht Bonn begonnen. Es hatte auf Veranlassung des damaligen Staatssekretärs Dr. Lenz und auf Ersuchen der Oberstaatsanwaltschaft Bonn die SPIEGEL-Nummer 28/1952 beschlagnahmt. Das war am 8. Juli 1952.
Seither sind mehr als zwei Jahre verflossen, ohne daß dem SPIEGEL bis heute Gelegenheit geboten wurde, den Wahrheitsbeweis für den inkriminierten Artikel anzutreten. Eine Verfassungsbeschwerde des SPIEGEL über diese Beeinträchtigung der im Grundgesetz verbürgten Pressefreiheit durch die amtsrichterliche Beschlagnahmepraxis steht ebenfalls seit fast zwei Jahren zur Entscheidung an.
Der Bundestagsabgeordnete Dr. Adolf Arndt, der selbst schon Amtsrichter, Landrichter und Oberstaatsanwalt gewesen ist, ließ sich nach der »Stern«-Beschlagnahme in einer Pressemitteilung der sozialdemokratischen Fraktion vernehmen: »Ich finde es schlechterdings albern, daß man gegen die Ausgabe der ''Stern''-Zeitschrift vorgegangen ist... Dieser fortgesetzte Mißbrauch der Rechtspflege durch polizeistaatlichen Unfug muß ein Ende haben.«
Er sei sicher, sagte Arndt, daß die SPD-Fraktion seine Änderungsvorschläge zur Strafprozeßordnung, die er auf Grund dieser jüngsten Beschlagnahme sofort ausarbeiten werde, als Gesetzentwurf einbringe.