Der Spiegel Nr. 2, 5. Januar 1954
Der Gerichtsassessor Wais vom Amtsgericht Stuttgart hat am dritten Weihnachtsfeiertag ein neues Beispiel dafür gegeben, wie bequem es für einen interessierten Prominenten heutzutage ist, trotz aller im Grundgesetz proklamierten Pressefreiheit mit einem knappen Akt eines Einzelrichters eine Zeitschrift beschlagnahmen zu lassen.
Gerichtsassessor Wais war einigermaßen überrascht gewesen, als an jenem Sonntagabend der Mercedes 300 des Stuttgarter Oberbürgermeisters Dr. Arnulf Klett vor seiner Wohnung gehalten hatte. Arnulf Klett hatte am Morgen dieses Festtages von einem Zeitschriften-Grossisten erfahren, daß die Illustrierte »Post«, die zwischen Weihnachten und Neujahr ausgeliefert werde, sich zwei Seiten lang unter der Überschrift »Die seltsame Karriere des Dr. Klett« mit seiner Person beschäftige.
Dr. Klett wollte am 10. Januar, wenn ein neuer Stuttgarter Oberbürgermeister von der Bevölkerung der Stadt gewählt werden wird, wieder für diesen Posten kandidieren. So mußte in der baden-württembergischen Hauptstadt intensivem Interesse begegnen, was man über ihn auf den zwei Seiten der »Post« berichtete.
Als Arnulf Klett den »Post«-Artikel gelesen hatte, war er der Überzeugung, daß dieser Beitrag den Zweck verfolge, seine, Kletts, Wiederwahl als Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart zu verhindern oder doch zu erschweren und ihn im übrigen in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. So eilte der Stadtvater mit seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Schwamberger, aufs Stuttgarter Amtsgericht, um dort dem diensttuenden Amtsrichter den Wunsch vorzutragen, daß die Auslieferung der Illustrierten mit diesem Artikel unterbunden werden möge.
Aber im Gerichtsgebäude war kein Bereitschaftsrichter zu finden. Die Adresse des an sich Diensthabenden im Verzeichnis des Amtsgerichts stimmte außerdem nicht.
So blieb dem Stuttgarter Stadtoberhaupt nichts übrig, als mit dem Mercedes 300 schließlich den Gerichtsassessor Wais zu holen, dessen Adresse greifbar war. Man fuhr zusammen nun aber nicht etwa ins Amtsgericht, sondern in das Polizeipräsidium, den Sitz des Stuttgarter Polizeipräsidenten. Der Polizeipräsident ist an die Weisungen des Oberbürgermeisters gebunden.
Oberbürgermeister Arnulf Klett gab zunächst kund, er werde gegen die »Post« Privatklage wegen Beleidigung erheben, denn einige Angaben des »Post«-Artikels über ihn seien unrichtig und beleidigend. Außerdem beantrage er eine Einstweilige Verfügung gegen die »Post«, durch die dem Blatt untersagt werde, Hefte mit dem Klett-Artikel auszuliefern. Zum Beweise dafür, daß der »Post«-Artikel über ihn Unrichtigkeiten enthalte, legte Arnulf Klett eine schnell geschriebene Eidesstattliche Versicherung vor.
Der Assessor Wais entsprach dem Antrag des Oberbürgermeisters, gegen die »Post« eine Einstweilige Verfügung zu erlassen. Dem Blatt wurde aufgegeben, die schon ausgelieferten Exemplare sofort zurückzuziehen. Der Assessor Wais verbot auch, die angekündigten Fortsetzungen des Artikels zu veröffentlichen, obgleich dazu nicht einmal der betroffene Arnulf Klett sagen konnte, ob sie wohl Unrichtigkeiten und Beleidigungen enthalten würden.
In der Begründung dieser Einstweiligen Verfügung, die ein Akt der Zivilgerichtsbarkeit ist, schrieb der Gerichtsassessor Wais: »Die Einstweilige Verfügung verbietet das Erscheinen der Zeitschrift noch nicht schlechthin, verhindert aber bis zum Vorliegen einer endgültigen Entscheidung darüber, ob der Artikel in dieser Form erscheinen darf oder nicht, seine Verbreitung in der Öffentlichkeit ... Es erschien deshalb auch nicht angezeigt, ... mündliche Verhandlungen anzuberaumen oder den Antraggegnern (also der »Post") schriftlich Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.«
Angesichts des Streitwertes, um den es bei der Beschlagnahme einer ganzen Auflage geht, wäre für die Einstweilige Verfügung das Landgericht zuständig gewesen. Zu dieser Frage führte der Gerichtsassessor Wais in seiner Einstweiligen Verfügung lediglich aus: »Das angerufene Gericht ist zuständig ... sachlich, da wegen Dringlichkeit die Anrufung des Landgerichts, an das der Antrag möglicherweise wegen der Höhe des Streitwertes zu richten gewesen wäre, nicht tunlich erschien.«
Dazu sagt »Post«-Anwalt Vollmer: »Daß der Streitwert im vorliegenden Fall die amtsgerichtliche Zuständigkeit überstieg,
liegt auf der Hand. Warum es dem Amtsgericht nicht tunlich erschien, den Antragsteller an das im Nachbargebäude befindliche Landgericht zu verweisen, ist unerfindlich.«
Der Gerichtsassessor Wais hatte zur Verhinderung der Artikel-Publikation über den Stuttgarter Oberbürgermeister neben der Einstweiligen Verfügung noch eine andere Manipulation an der Hand, die ihm die Strafprozeßordnung bietet und die nur das Verfahrensrecht bei Verfolgung strafbarer Handlungen regelt.
Nachdem der Assessor bis dahin in der Zivilklagesache Klett kontra »Post« mit seiner Einstweiligen Verfügung tätig geworden war, wandelte er sich nämlich nun in der Privatklage-Sache des Oberbürgermeisters zum Strafrichter und ordnete in aller Form die Beschlagnahme der »Post« für das gesamte Bundesgebiet an. Assessor Wais stützte sich dabei auf den Paragraphen 94 der Strafprozeßordnung, in dem es heißt: »Gegenstände, die als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können oder der Einziehung unterliegen, sind in Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen.«
Wenn es dem Assessor hier um die Beweissicherung gegangen wäre, hätte es gereicht, ein einziges »Post«-Exemplar zu beschlagnahmen. Aber der Assessor wollte ja mit diesem Paragraphen die Beschlagnahme der gesamten Auflage erreichen, und darum argumentierte er:
»Der Artikel enthält verschiedene Behauptungen und Anschuldigungen, die, wenn sich ihre Unwahrheit herausstellen sollte, Vergehen ... darstellen würden ... In jedem Fall aber unterliegen, wenn es zu einer Verurteilung (der 'Post') ... kommt, die Exemplare der Zeitschrift möglicherweise der Einziehung. Um diese Einziehung sicherzustellen, erscheint daher schon jetzt die Beschlagnahme der einzelnen Exemplare der Zeitschrift erforderlich.«
Auf diese Weise hatte der Assessor Wais mit Hilfe einer Verfahrensregel der Strafprozeßordnung einen handlichen Knebel gedreht, mit dem er der Illustrierten »Post« den Mund stopfen konnte.
Es war im Stuttgarter Polizeipräsidium am dritten Weihnachtsfeiertag neun Uhr abends geworden, ehe Assessor Wais die Beschlagnahmeverfügung unterzeichnete. Wenige Minuten später konnte der Kriminaldirektor Neukirchner schon in Sachen seines Oberbürgermeisters Alarm auslösen und allen Polizeidienststellen in der Bundesrepublik die Anweisung geben, die »Post« allüberall einzuziehen.
Nun hat eine Beschlagnahme, wie sie der Paragraph 94 der Strafprozeßordnung vorsieht, dann ihren Sinn, wenn etwa ein Auto bis zur Gerichtsentscheidung sichergestellt wird, in dem angeblich Kaffee geschmuggelt worden ist. Die Beschlagnahme soll verhindern, daß mit der sichergestellten Sache weiterhin strafbare Handlungen begangen werden können. Sollte das Gericht den Autobesitzer schließlich von der Anklage freisprechen, so bekommt er sein Fahrzeug in dem gleichen Wert und Zustand wieder, in dem es eingezogen worden ist.
Sollte jedoch die »Post«-Auflage nach einem freisprechenden Urteil schließlich wieder an den Verlag zurückgegeben werden, so ist sie allenfalls noch ein Posten Altpapier und hat ihren ursprünglichen Wert völlig verloren Was der Assessor Wais da angeordnet hatte, war also im Effekt keine Sicherstellung, sondern schon eine vorweggenommene Unbrauchbarmachung der Auflage, wie sie eigentlich nur ein Gericht nach einer ordentlichen Verhandlung aussprechen darf.
Die Praxis, durch unzulässige Anwendung von Vorschriften der Strafprozeßordnung kurzerhand ganze Zeitschriften-Auflagen beschlagnahmen zu lassen, hat der Gerichtsassessor Wais dem Amtsgericht Bonn absehen können. Dieses Gericht hatte mit derselben gewagten juristischen Begründung am 8. Juli 1952 den SPIEGEL Nr. 28 beschlagnahmt, wogegen inzwischen beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Grundrechte eingelegt worden ist (SPIEGEL 1/1954).
Der Anwalt der »Post«, Dr. Walter Vollmer, hat mittlerweile gegen den Gerichtsassessor Wais eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht: »Ich kann kaum annehmen, daß sich der Richter zu einer derartigen Verfahrensweise bereitgefunden hätte, wenn es sich bei dem Antragsteller nicht um den Oberbürgermeister gehandelt hätte. Der Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz scheint mir hiernach verletzt worden zu sein.«
Der Anwalt will in seiner Dienstaufsichtsbeschwerde außerdem geklärt wissen,
* wie es komme, daß sowohl der Antrag auf Einstweilige Verfügung als auch die Privatklage mit dem Datum vom 27. Dezember den Eingangsstempel des Amtsgerichts vom 28. Dezember tragen, während die vom Richter erlassenen Anordnungen unter dem Datum des 27. Dezember bereits getroffen worden sind;
* ob Wais turnusmäßig überhaupt als Bereitschaftsrichter an der Reihe gewesen sei;
* wie es zu erklären sei, daß Einstweilige Verfügung, Beschlagnahme und die Eidesstattliche Versicherung des Dr. Klett über die Unrichtigkeiten der »Post«-Veröffentlichung augenscheinlich alle auf derselben Schreibmaschine getippt worden seien, und
* was davon zu halten sei, daß die ganze Amtshandlung im Polizeipräsidium vor sich ging, also einer Dienststelle, die an die Weisungen des Antragstellers Klett gebunden ist.
Der Assessor Wais ist zum 31. Dezember überraschend vom Amtsgericht der Landeshauptstadt Stuttgart an das Amtsgericht des idyllischen Städtchens Waiblingen an der Rems versetzt worden.