Marc Rath: „Artikel 5 des Grundgesetzes ist im Redaktionsalltag gelebte Praxis“
Medien sollten sich hinterfragen, ob sie vielfältig und differenziert genug sind
Marc Rath, Chefredakteur Volksstimme/Mitteldeutsche Zeitung
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Haus der Pressefreiheit: Unser Grundgesetz, dass mit dem Artikel 5.1 die Pressefreiheit und Meinungsvielfalt gewährleistet, feiert 2024 seinen 75. Geburtstag. Wie würden Sie aus Ihrem Redaktionsalltag heraus den aktuellen Zustand der Pressefreiheit in unserem Land beschreiben?
Marc Rath: Zunächst einmal: Der Artikel 5 unseres Grundgesetzes ist im Redaktionsalltag gelebte Praxis und so selbstverständlich, dass wir seinen Wert vielleicht oft gar nicht genug schätzen. Wir arbeiten in einem geschützten Raum, können unserem Lebensunterhalt davon bestreiten sowie schreiben, sagen und drehen „was ist“.
Gleichwohl glauben immer mehr Menschen, dass es diese Freiheit gar nicht so gibt, wie wir sie erleben, und vermissen eine Meinungsvielfalt. Diese Entwicklung halte ich für bedenklich und herausfordernd zugleich. Einerseits lässt sich beides rational und auch strukturell leicht widerlegen. Und dennoch ist dieses Empfinden ja erlebte Wirklichkeit. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir vielfältig und differenziert genug sind.
Der Eindruck einer fehlenden Vielfalt erklärt sich für mich, dass unsere Branche zu sehr einer Agenda folgt, die Legislative, Exekutive und andere Handelnde vorgeben. Wir schauen zu häufig in eine Richtung, anstatt den 360-Grad-Blick zu wagen bzw. einmal abseits des Weges die Augen offen zu halten – beziehungsweise stellen dies oft nicht deutlich genug heraus, wo wir es tun. Das betrifft insbesondere die nationale Berichterstattung über Politik und Wirtschaft. Die Konzentrationsprozesse, die es hier gibt, sehe ich mittlerweile kritischer als vor einiger Zeit.
Erschwerend kommt hinzu, dass vieles „aus Berlin“ nicht die Lebenswirklichkeit der Menschen trifft, schwer nachzuvollziehen ist und angesichts der zahlreichen aktuellen Krisen auf die Mehrheit der Bevölkerung wirkt. Das ist leider ein Schatten, der über uns steht.
Haus der Pressefreiheit: Beobachten Sie besonders brisante Entwicklungen, die über die allgemeine Medienkritik hinausgehen und wie gehen Sie mit ihrem Redaktionsteam dagegen vor bzw. schützen es davor?
Marc Rath: Leider ja. Die vergangenen Monate haben offenbart, dass bei vielen Menschen in unserer Gesellschaft die Nerven blank liegen. Die zum Teil massiven Einschränkungen der Corona-Zeit haben wirtschaftlich und mental mitunter drastische Folgen gehabt. Dazu kommen die Angst vor einem Krieg und vor weiteren Einschnitten. Die Blockaden von Druckereien und Verlagshäusern von Bauern, verbale und zum Anteil auch tätliche Angriffe auf Pressevertreter bei Demonstrationen und Versammlungen waren und sind ein alarmierendes Zeichen.
In Sachsen-Anhalt waren diese Ereignisse bislang glücklicherweise nicht ganz so dramatisch wie andernorts und beschränkten sich auf einzelne verbale Angriffe. Ich erkläre mir das ein Stück weit auch damit, dass meine rund 300 Kolleginnen und Kollegen durch unsere starke Präsenz in der Fläche eben auch näher dran sind an den Menschen. Wir haben im Land aber auch keine derartigen extremistischen Strukturen wie in Sachsen mit den „Freien Sachsen“.
Gleichwohl gilt es für uns, den Mitgliedern unserer Teams den bestmöglichen Schutz zu gewährleisten. Das geht von direkter Begleitung in schwierigen Situationen durch die Chefredaktion oder über hinzugezogene Anwälte, Begleitung auf Demonstrationen und Veranstaltungen, Teamarbeit bei brisanten Themen. Bei öffentlichen Veranstaltungen, die wir selbst organisieren, erwägen wir inzwischen auch Sicherheitskonzepte und stimmen diese mit den örtlichen Behörden ab.
Haus der Pressefreiheit: Auf dem Bremer Verlagstreffen sprachen Sie im Zusammenhang mit den Anfeindungen und Beschimpfungen von Journalisten, dass Sie eine gewisse Tendenz zur Selbstzensur in der Redaktion beobachten. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür und wie drückt sich diese Selbstzensur aus?
Marc Rath: Die Frage der Selbstzensur haben jüngste Studien aufgeworfen. Mir ist es wichtig, dass gerade diese nicht eintritt bzw. nicht dazu führt, dass wir Themen verschweigen. Der Lokaljournalismus als direkteste Form des Journalismus lebt von seiner unmittelbaren Nähe, aber auch von professioneller Distanz. Das ist bereits im normalen Alltag eine Herausforderung. Eine reizvolle, finde ich übrigens. Im Umgang mit extremen Kräften birgt sie aber auch Gefahren. Es ist in der Regel leicht herauszubekommen, wo wir wohnen. Wir haben Familienmitglieder, die mitunter auch zur Zielscheibe werden. Da ist es menschlich nur allzu verständlich, wenn man sich an gewisse Fragen und Personen nicht heranwagt.
Mir ist wichtig, dass sich Kolleginnen und Kollegen bei brisanten Themen uns in der Chefredaktion anvertrauen. Dann suchen wir gemeinsam nach einer Lösung. Bei rechtsextremen Aktivitäten in einer Kleinstadt unseres Verbreitungsgebietes hat kürzlich ein versierter Kollege aus dem Mantel die Recherchen übernommen – natürlich in engster Abstimmung mit dem Team vor Orr, das hier aber nicht näher auftrat. So hatten wir dieses wichtige Thema im Blatt, die Mitglieder der Lokalredaktion standen aber nicht im Fokus, denn deren Schutz muss obenan stehen. Aber wir konnten das Thema setzen.
Hamburg, 30. April 2024 / JH